K. Girschik: Als die Kassen lesen lernten

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Titel
Als die Kassen lesen lernten. Eine Technik- und Unternehmensgeschichte des Schweizer Einzelhandels


Autor(en)
Girschik, Katja
Erschienen
München 2010: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
253 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Florian hoof

Die Studie hat die Einführung der Computertechnik in den Schweizer Einzelhandel von 1950 bis 1975 zum Thema. Einer ihrer Ausgangspunkte ist ein in Vergessenheit geratener Weltrekord in einer Zürcher Filiale des Schweizer Detailhändlers Migros. Dort wurde 1949 der weltweit höchste Warenumsatz im Verhältnis zur dazu benötigten Verkaufsfläche erzielt. Mit dem Aufkommen des Prinzips der Selbstbedienung und einer massiven Ausweitung des Sortiments musste das perfektionierte Warendistributionssystem der Migros in den folgenden Jahrzehnten den neuen Gegebenheiten angepasst werden. Dies betraf die gesamte landesweite Warenlogistik – bis hin zur Abfertigung der einzelnen Kunden. So bildeten sich etwa an den neuen Kassen der Selbstbedienungsfilialen lange Kundenschlangen, die den Umsatz pro Verkaufsfläche schmälerten. Wie die Migros auf diesen Umstand reagierte, ist der eigentliche Gegenstand der Studie. Als Dreh- und Angelpunkt der Bemühungen der Migros werden die installierten Kassensysteme identifiziert. Sie stellten die zentrale Schnittstelle zwischen den Kunden, den Beschäftigten und der Warenlogistik im Unternehmen dar.

Die in drei Teile gegliederte Studie analysiert, wie an den Kassen verschiedene soziotechnische Systeme aufeinanderprallten und welche Aushandlungsprozesse mit der Einführung der Computertechnik verbunden waren. Der erste Teil umfasst die 1950er und 1960er Jahre und beschreibt die erfolglosen Ver suche, den Schlangen an den Kassen mit dynamischen Preisen und einer grundlegend veränderten Kassenkonzeption zu begegnen. Weder ein Anreizpreissystem, das sich am Kundenandrang orientierte, noch ein Pilotprojekt, bei dem die Kunden ihre Einkäufe mit sogenannten Selbsttippkassen selbst registrieren sollten, waren erfolgreich. Der zweite Teil rekonstruiert einen Bedeutungswandel, dem die Kassen- und Warenlogistiktechnologien unterlagen. In den 1960er Jahren wurden sie nicht länger als tayloristische Werkzeuge der Prozessoptimierung beschrieben, sondern wandelten sich zu komplexen Problemlösungsversprechen. Als Teil eines umfassenden Management Information Systems, sollten sie zu potentiellen Steuerungs- und Entscheidungswerkzeugen für das Management, die gesamte Warenlogistik und die Marktforschung werden. Diese Umdeutung rechnergestützter Kassensysteme war die Voraussetzung für ein Pilotprojekt zur Einführung eines elektronischen Scanner-Kassensystems, dessen Analyse den dritten Teil der Studie ausmacht. Ziel war die Installation eines rechnergestützten Warenwirtschaftssystems, das einen automatischen, nachfragegestützten Warennachschub garantierte. Das Automatic Point Of Sale System (APOSS) wurde zwischen 1968 und 1972 vom Migros-Genossenschafts-Bund (MGB) in Zusammenarbeit mit dem Schweizer Unternehmen Zellweger entwickelt, zur Marktreife gebracht und anschliessend mangels Erfolg abgebrochen. Stattdessen wurde einige Jahre später das in den USA entwickelte Barcode-System eingeführt.

Der Autorin gelingt die Verschränkung sowohl einer unternehmens- als auch einer technikhistorischen Perspektive. Zum einen wird die Sonderstellung der dezentral organisierten Migros und ihrer Discountstrategie der «economies of scale» (S. 49) thematisiert. Aus einer technikhistorischen Perspektive verfolgt die Arbeit zum anderen die zeitgleiche Einführung der Computertechnik in den Bereich des Einzelhandels am Beispiel der Registrierkassen. Das eigentliche Ziel der Arbeit besteht nicht darin, die Genese der Computertechnologie im Einzelhandel darzustellen. Vielmehr versucht die Autorin, sich der Technologie als eines Trägers von Bedeutungen, als eines kontroversen Aushandlungsfeldes innerhalb des Unternehmens Migros zu nähern. Sie betrachtet, wie «Technik als ein Mittel zur Veränderung kommunikativer Gegebenheiten und Wahrscheinlichkeiten eingesetzt wird» (S. 227). Dabei greift sie auf das Firmenarchiv der Migros zurück und rekonstruiert minutiös die Akteurskonstellationen, die sich für die Einführung und die Konzeption der Kassen- und Warenddistributionssysteme verantwortlich zeigten.

Die Studie eröffnet, gerade durch die Verschränkung einer technik- und unternehmenshistorischen Perspektive, einen beeindruckend detaillierten Blick auf die Anpassungsschwierigkeiten der Computertechnik an bestehende soziotechnische Gegebenheiten. Sie veranschaulicht, wie eine Technologie völlig gegenläufige Effekte zeitigen kann, wenn sie in eine spezifische Akteurskonstellation eingebracht werden soll. Prozesse des Scheiterns technischer Lösungen verbleiben so nicht auf der Beschreibungsebene einer Sackgasse, sondern lassen sich im Kontext des Unternehmens kommunikativen Aushandlungsprozessen zuordnen. Sie bilden eine eigene, wirkmächtige Sphäre, die Begriffe wie Adaption oder Anpassung nur unzureichend beschreiben.

Mit der Zuspitzung der Analyse auf das Unternehmen ist unvermeidlicher Weise auch eine Einschränkung der Studie verbunden. Die funktionale Rückbindung technologischer Bedeutungsebenen auf das Unternehmen lässt Fragen nach dem Stellenwert der Ästhetik von Technik zurücktreten. Gerade bei einer Technologie wie der Scannerkasse, einer rein visuellen Schnittstelle, hätte man gerne mehr darüber erfahren. Der zweite, gewichtigere Einwand betrifft die Frage nach der Epistemologie. Die Autorin verwendet den Begriff des soziotechnischen Systems, um miteinander in Beziehung stehende Zusammenhänge zu markieren. Nicht immer ist klar, wo ein solches System aufhört und wo die Bedeutungen der Technik anfangen. Dadurch operiert die Studie teilweise mit Begriffen, wie etwa der Vorstellung von der Kasse als Flaschenhals, die selbst wiederum hochaufgeladene und relativ neue Konstruktionen aus dem Bereich des Managements und der Unternehmensberatung ihrer Zeit waren. Doch vor der in der Studie gelungenen, methodologisch anspruchsvollen Verkettung zweier Forschungsparadigmen verblassen diese Einwände. Sie ist Teil neuer Arbeiten aus dem Bereich der Technik-, Unternehmens- und Mediengeschichte, die historische Präzision mit sozialwissenschaftlichen Konzepten produktiv zu verbinden wissen.

Zitierweise:
Florian Hoof: Rezension zu: Katja Girschik: Als die Kassen lesen lernten. Eine Technik- und Unternehmensgeschichte des Schweizer Einzelhandels. München, C.H.Beck, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 61 Nr. 4, 2011, S. 497-499

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 61 Nr. 4, 2011, S. 497-499

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